Die Mistel war im Altertum heilige und Heilpflanze zugleich; die Druidenpriester verehrten sie als „alles Heilende“. Mistelzubereitungen wurden bei einer Reihe verschiedener Erkrankungen medizinisch verwendet: z.B. bei Leberleiden, Fallsucht oder Beschwerden, die wir heute auf Bluthochdruck zurückführen würden; die Krebserkrankung war jedoch noch nicht darunter. Diese Indikation ist einem Hinweis Dr. phil. Rudolf Steiners, des Begründers der Anthroposophie (1861 – 1925), zu verdanken. Zusammen mit der Ärztin Dr. Ita Wegman entwickelte er die Grundlagen der anthroposophisch erweiterten Medizin, deren vielleicht bekanntestes Medikament heute das Mistelpräparat Iscador® ist.
Nach fast 80 Jahren klinischer Erfahrung mit dem Medikament Iscador® ist die Mistel aus der modernen Krebstherapie nicht mehr wegzudenken. Es wurden bis heute eine Reihe von Therapieschemata entwickelt, die eine rationale individuelle Behandlung ermöglichen. In der modernen Misteltherapie kommt es darauf an, die gesamte Potenz der Pflanze zu nutzen und sie nicht nur auf einen Wirkstoff zu reduzieren. Neue Studien zeigen eindeutig, dass mehrere Mistelinhaltsstoffe immunmodulierende und zytotoxische Wirkungen entfalten. Die Kenntnis dieser Vielfalt ermöglicht einen differenzierteren Einsatz von Mistelpräparaten, als das durch die Reduktion der Sichtweise auf nur einen Inhaltsstoff möglich ist.
Mistelpräparate sind für die Therapie maligner und präkanzeröser Erkrankungen in verschiedenen Ländern Europas offiziell zugelassen und werden als adjuvante Therapie neben konventioneller Chemo- und Strahlentherapie eingesetzt. Verschiedene Wirkungen von Mistelpräparaten wurden durch zahlreiche Studien belegt.
Mistelextrakte werden im Wesentlichen durch zwei Wirkstoffgruppen gekennzeichnet: Mistellektine und Viscotoxine. Beide Stoffgruppen weisen sowohl zytotoxische als auch immunmodulierende Eigenschaften auf. Diese Substanzgruppen werden von der Pflanze im Sommer und Winter in unterschiedlichen Zusammensetzungen und Mengenverhältnissen gebildet. Ein sehr aufwendiges Herstellungsverfahren ist notwendig, um die gesamte Potenz der Pflanze pharmazeutisch erfassen und so für die Therapie nutzbar machen zu können. Mehrere Untersuchungen haben gezeigt, dass auch mit praktisch lektinfreien Mistelpräparaten immunmodulierende Wirkungen erzielt werden können. Es ist für die Misteltherapie daher wesentlich, dass Präparate eingesetzt werden, die diese Gesamtpotenz enthalten und vermitteln.
Als die drei wichtigsten Wirkungen von Mistelextrakten zeigten sich: Induktion des apoptotischen Zelltods, Stimulation des Immunsystems und Schutz der DNA gegenüber alkylierenden Chemotherapeutika und Bestrahlung. Die immun-modulatorischen und krebshemmenden Wirkungen von Viscum album sind in vitro, ex vivo in vitro und in vivo untersucht worden. Die Wirksamkeit beruht auf der Aktivierung von Natural Killer (NK) Cells, Makrophagen und Large Granular Lymphocytes (LGL). Darüber hinaus ruft die Therapie mit Viscum album die Ausschüttung der Zytokine IL-1, IL-6, IL-8, TNF-α und IFN-γ hervor.
Für Iscador® sind folgende immun-modulatorische und genreparative Eigenschaften nachgewiesen worden: Im Tierexperiment Erhöhung der Lymphozytenstimulierbarkeit durch PHA und Con-A sowie Thymus- und Milzhyperplasie, bei Menschen in vitro gesteigerte Lymphozytenstimulierbarkeit, in vivo gesteigerte Zytokinsekretion von Il-1, Il-6, IFN-α, TNF-γ, vermehrte Expression des Il-2-Rezeptors (CD25), Erhöhung des T-Helfer-/T-Suppressor-Zell-Quotienten, Anstieg der NK-Zellen mit Steigerung ihrer Aktivität, Zunahme der Leukozyten und neutrophilen Granulozyten und der Phagozytose-Funktion der Granulozyten, ferner sowohl in vitro als auch in vivo Steigerung der DNS-Reparatur von Lymphozyten nach Induktion eines DNS-Schadens durch UV-, Gamma- sowie Photonenstrahlung bzw. Chemotherapie. Für die immunologischen Eigenschaften von Iscador® werden vorwiegend die Mistellektine verantwortlich gemacht, jedoch auch Polysaccharide und Viscotoxine werden diskutiert.
Neben diesen immunologischen kommen auch zytotoxische Wirkungen von Viscum album in Betracht. Verantwortlich dafür sind ebenfalls die Mistellektine und Viscotoxine. Erstere hemmen die ribosomale Proteinsynthese, letztere schädigen die Tumorzellmembranen. Dadurch entfalten entsprechende Viscum-Präparate gegen eine Reihe von Tumorzelllinien eine dosisabhängige zytotoxische Wirkung. Klinisch ist die topische Applikation von Iscador® auch in höheren Dosen in den bisher untersuchten Situationen gut verträglich gewesen. Das betrifft die Behandlung der malignen Pleurakarzinose durch intrapleurale Iscador®-Instillation und die in Pilotstudien durchgeführte intravesikale Behandlung des oberflächlichen Harnblasenkarzinoms. Bei der intrapleuralen Applikation ist gleichzeitig mit der zytotoxischen Wirkung auf die Tumorzellen eine immunologische Reaktion mit deutlicher Vermehrung der eosinophilen Granulozyten und Lymphozyten sowie eine signifikante Erhöhung des T-Helfer-/Suppressor-Quotienten dokumentiert worden.
Unter der Therapie mit Iscador® kann es vorübergehend zu einer Erhöhung der Körpertemperatur um etwa 0,5 °C kommen, was jedoch erwünscht ist, da es zeigt, dass die Abwehrmechanismen des Körpers gut funktionieren. In seltenen Fällen werden dosisabhängige grippeähnliche Symptome beschrieben, die nach Dosisreduktion wieder verschwinden.
An der Injektionsstelle kann es im Rahmen der Dosissteigerung beim Wechsel von 0,1 mg auf 1 mg bzw. von 1 mg auf 10 mg zu einer lokalen Entzündungsreaktion um die Einstichstelle herum kommen, die sich in Hautrötung, Induration, leichter Überwärmung und Jucken äußert. Diese Lokalreaktion tritt 4 bis 10h nach subkutaner Injektion auf und dauert etwa 24 bis 48h an. Histologische Untersuchungen von Hautproben der Injektionsstelle zeigten eindeutig, dass es sich bei Lokalreaktionen um eine dosisabhängige Entzündungsreaktion handelt (lymphomonozytäres Infiltrat mit aktivierten T-Helferzellen). Auch diese Hautreaktionen sind harmlos und in bestimmtem Rahmen (Durchmesser bis 5 cm) therapeutisch erwünscht. Eine ausbleibende Lokalreaktion stellt jedoch umgekehrt kein Kriterium für eine unzureichende Reaktivität des Organismus dar, da der menschliche Organismus auf Iscadorpräparate verschiedener Wirtsbaumspezies jeweils individuell unterschiedlich reagieren kann.
Bei Misteltherapie kann es sehr selten auch zu echten allergischen Reaktionen, bis hin zum Schockzustand, kommen, die sich als generalisierter Juckreiz, Urticaria, lokales oder generalisiertes Exanthem bis hin zu Quincke-Ödem, Schüttelfrost und Atemnot äußern. Diese Symptome können sofort und eindeutig von der lokalen Entzündungsreaktion unterschieden und müssen einer antiallergischen Notfalltherapie zugeführt werden.
Mistelpräparate dürfen nicht angewendet werden, wenn der Patient an einer akuten entzündlichen Erkrankung oder einer unbehandelten Schilddrüsen-Überfunktion leidet. Eine Behandlung von Hirntumoren oder Hirnmetastasen muss durch einen erfahrenen Arzt sorgfältig abgewogen und ggf. engmaschig begleitet werden.
Es muss betont werden, dass die Misteltherapie des Krebses nicht als Alternative zur konventionellen Onkologie (mit den drei Säulen Operation, Chemo- und Strahlentherapie) zu verstehen ist, sondern als deren Ergänzung („komplementäre“ Therapie). Wiederum als Teil der „Integrativen Krebsbehandlung“ hat die Therapie mit Iscador® neben anderen ergänzenden und begleitenden Maßnahmen wie Kunsttherapie und Heileurythmie ihre Stärke insbesondere in einer Verbesserung der Lebensqualität mit möglichen Auswirkungen auf physisch-funktioneller, emotionaler, sozialer und spiritueller Ebene.